Maria Weise - Neun Jahre alt

Geboren bin ich im August, ein Sonntagskind. Meine frühen Kindheitsjahre verbrachte ich unbe­schwert, lebte sie aus, sei es schlafend im Paddelboot oder im Korb auf dem Schlitten. Immer quirlig und neugierig. Einge­schult wurde ich in einem Blumenkleid mit 5Jahren. Nicht wundern – ich galt nicht als Wunderkind, hatte aber kurze Zeit darauf Geburtstag.

Zudem vollendete sich der Hausbaus in einem kleinen unbedeutenden Dorf.

Es hat einen wunderschönen weiträumigen Garten und liegt am Park. Bis ich also neuneinhalb Jahre alt war, kann ich von vielen Kindheitsgeschichten erzählen, aber keine ist von so großer Bedeutung für mich gewesen wie die EINE.

Meine Mutti hatte Brustkrebs. Als ich sechseinhalb Jahre alt war, wir fuhren zur Mutter-Kind-Kur und alles hat sich gebessert, sie hat den Krebs besiegt. Alles schien wieder im Lot.

 

Neuerdings plagten meine Mama einige Schmerzen, die Ärzte konnten aber nichts feststellen. Doch dann, das Szenario habe ich noch gut vor meinen Augen an einem Mittwochabend. Ich kam vom Tanzen, Vati hatte mich abgeholt. In der Stube brannte das Licht, die Tür stand offen. Sie lief von Schmerzen im Halsbereich geplagt hin und her. Sie hielt das Telefon zitternd in der Hand, setzte sich hin, begrüßte uns, suchte aufgelöst eine Nummer im Telefonbuch.

Zehn Minuten später hörte ich die Sirenen, der Krankenwagen war eingetroffen, nahm sie mit. Von diesem Punkt an schossen mir tausend Gedanken durch den Kopf.

Diagnose: Krebs

Im Krankenhaus stand ich lange an ihrem Bett, alles war so steril. Meine Mutti nahm mich in den Arm und drückte mich ganz fest an sich. Ich spürte ihre Liebe aber auch ein gewisses unsicheres Gefühl breitete sich still bei mir aus. Die Ärzte sagten, für die Therapie bliebe sie nun im Krankenhaus.

Die Sommerferien standen vor der Tür. Für mein sehr gutes Zeugnis schenkte sie mir einen Nintendo. Ich habe mich riesig gefreut, das war schließlich gleichzeitig mein Geburtstagsgeschenk.

Ich fuhr über die Ferienzeit über zu meiner Oma und genoss die Zeit sehr. Dort fühlte ich mich so heimisch und geborgen. Inzwischen, beschlossen meine Eltern, mich im neuen Schuljahr bei meiner Tante und Onkel unter­zu­bringen. Sie wohnten in der Stadt – könnten sich vielleicht besser um mich kümmern als mein Vater allein zu Hause. Also lebte ich bei ihnen, jedoch waren die Regeln strenger.

– Beim Essen wird nicht gesprochen.

– Morgens wird dein Bett tip-top gemacht.

– Und nachmittags geht es zuerst an den Schreibtisch Hausaufgaben machen, dann wird Akkordeon geübt, dann hast du frei!

Zu dieser Zeit besuchte ich einmal in der Woche die Musikschule und ging zum Tanzen seit ich 5 war.

Im Nachhinein denke ich immer wieder, Tanzen war das, was mir Kraft gab.

 

Jedenfalls lief die Zeit, wie eine Sanduhr. Ich ging zur Schule, zu meiner Mutti ins Krankenhaus und nachmittags zum Akkordeon oder Tanzen. Bei Onkel und Tante war ich nicht wirklich glücklich. Ein Beispiel: Als ich eines Tages mein pinkes Köfferchen auspackte und mir mit den Figuren eine Ge­schich­te ausgedacht hatte, sie dementsprechend aufstellte und sie stehen lassen wollte, weil es gleich Essen gab, sagte meine Tante: „Nein so was fangen wir gar nicht erst an, pack es ein!“ Obwohl mein Köfferchen grade einmal einen klitze kleinen Teil des geräumigen Zimmers einnahm.

 

Zeit verging und es kamen die Herbstferien, ich wollte natürlich zu Oma. Mein Papa brachte mich hin, die Autofahrt ist immer ziemlich lang – vier ganze Stunden voller Vorfreude und ein bisschen Lange­weile.

Die Woche war schön und viel zu schnell vorbei. Mein Onkel hat Pferde, sodass ich an ein, zwei Nachmittagen reiten konnte. Ich habe Spaß dabei. Tagsüber half ich nebenbei meiner Oma in der Gaststätte und ging mit ihrem Dackel aus. Er heißt Heidi, verhält sich lebensfroh, frech und zeigt Treue. Zum Ende der Woche nahm mich mein anderer Onkel dann mit zu ihnen, damit ich noch Zeit bei meiner älteren Cousine verbringen konnte. Wir standen uns schon damals sehr nahe, sie ist wie eine große Schwester für mich. Habe ich einen Rat gebraucht, konnte sie mir helfen.

Am Sonntagmorgen trat ich den Rückweg an, zuerst nach Hause, zu Papa. Meine Tante und mein Onkel brachten mich, Unterwegs hielten wir an einem Rastplatz am Wald an und erkundeten Pilze, einige nahmen wir mit. Im Auto spielte ich mein Pferdespiel weiter, jedoch ärgerte ich mich, dass ich einen guten Spielstand nicht gespeichert hatte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir dann an – und wurden schon erwartet. In meiner Hand hielt ich den Nintendo, mein Vati öffnete uns die Tür, bat meine Tante und meinen Onkel einzutreten, erbückte sich, hatte Tränen in den Augen, schloss mich ganz fest in seine Arme und sagte mir ins Ohr, dass meine Mutti letzte Nacht tief eingeschlafen sei.

Zunächst verdrängte ich diesen Satz, rückte meine Emotionen in den Hintergrund. Wir saßen beide auf der Couch mittlerweile und ich tröstete ihn.

Er fing an zu erzählen

 

Für mich war die Situation so unreal, ihr Geruch war im Haus, ich sah die liebevoll dekorierten Fenster, in ihrem Schlafzimmer stand ein Gerät neben ihrer Bettseite, er sagte, letztes Wochenende war sie hier, das letzte Mal. Auch ich musste fürchterlich weinen, meist tat ich das abends auf meinem Zimmer. Und ich stellte mir so oft die Frage: Warum sie? Warum müssen wir leiden? Waren unser und ihr Leben nicht früher schon schlimm genug?

Kurze Zeit später bereiteten wir die Beerdigung vor, mein Vater suchte Musik aus, die Urne für sie wurde ge­wählt, eine Rose eingraviert. Meine Mutter war ein herzensguter Mensch, sehr kreativ, humorvoll, einfühlsam, liebevoll und trotzdem manchmal streng. Als Erzieherin war sie früher nicht immer nachmittags zu Hause, doch schrieb sie mir einen Zettel, was ich üben könne bzw. solle und, dass ich ja nicht gleich fernsah. Dann kam ein großes Küsschen. In die WG(betreutes Wohnen) wurde ich auch öfter mitgenommen, wir haben gebacken, gebastelt, Spiele gespielt. Meine Mutti war ideal für diesen Job, in dem sie auch viel Spaß hatte.

Für den Tag der Beisetzung war ich von der Schule freigestellt. Auf der Beerdigung fing ich an zu weinen, nach­dem ich einen roten Stein in den Händen hielt, den ich mir aussuchen durfte. Nebenbei betrachtete ich noch die vielen Gesichter, die alle gekommen waren, einige kannte ich nicht.

 

Meine Mama ruht jetzt in Frieden, ohne Schmerzen und passt wohl auf mich auf. Mein Schutzengel aber ich brauche sie doch hier unten, meine Mama.

Es flossen noch viele Tränen. Ich kramte auf dem verstaubten Dachboden nach alten Fotos von ihr. Die kamen in eine herzförmige Schatulle. Ich hatte sie ihr zum Muttertag geschenkt.